Wolfskinder by Vera Buck

Autor:Vera Buck [Buck, Vera]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Thriller/Krimi
ISBN: 9783644014022
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2023-02-28T23:00:00+00:00

JESSE

D iesmal ist es schlimmer als sonst. Diesmal ist da keine Stelle auf dem Pausenhof, an der ich sicher wäre, und keine Frau Bender, die aus dem Fenster sehen und eingreifen könnte. Frau Bender habe ich auf dem Gewissen, und ganz Almenen ist zu einem blinden Fleck geworden, in dem uns kein Erwachsener sieht und zu Hilfe eilt. Im Gegenteil. Die Erwachsenen haben ihre Kinder aufgehetzt, ihre Söhne, die mir auflauern und sich nun auf mich stürzen, kaum dass ich den Supermarkt verlasse. Durch die Scheibe kann ich noch sehen, wie die Kassiererin sich abwendet. So wie alle, die den Markt nach mir verlassen oder betreten. Sie wenden sich ab und gehen hastig weiter, während ich auf dem Boden liege und getreten werde. Wahrscheinlich finden sie, dass ich die Prügel verdient habe. Dass wir alle von dort oben sie verdient hätten. Ich war einfach nur der Erste aus der Siedlung, der einen Fuß über die Ortsgrenze von Almenen gesetzt hat. Ich musste einkaufen gehen, weil die Vorräte knapp werden und weil mein Vater sowieso nichts mehr tut, um mich aufzuhalten.

Er spricht überhaupt nicht mehr, seit die Beamten da waren. Wir kümmern uns schweigend um Mutter und gehen dann schweigend unserer Wege, als wäre nichts passiert. Dabei ist alles passiert.

Die Wange auf den Boden gedrückt, sehe ich zu, wie meine Einkäufe sich über die Straße verteilen. Die Jungen haben meinen Rucksack aufgerissen und alles in den Schmutz geworfen, reißen jetzt auch die Reispackungen und Nudelpakete auf, um sie über mir auszuleeren, während zwei von ihnen mich am Boden halten. Es folgen Eier und Mehl. Sie teeren und federn mich damit, wie einen Verbrecher aus vergangenen Zeiten. Und genau das bin ich wohl auch. Ein Verbrecher aus vergangenen Zeiten. Ein Verbrechersohn. Sie singen es sogar. Mit diesem alten Kinderreim, den sie umgedichtet haben: Da kam ein junger Verbrechersohn, Verbrechersohn, Verbrechersohn, da kam ein junger Verbrechersohn, sagte leis …

Wenn es darum geht, andere zu quälen, sind sie kreativ.

Ich blinzle verzweifelt, als das Mehl mir in die Augen staubt. Ein Apfel rollt vorbei, die abschüssige Straße hinunter. Eine Sellerieknolle hinterher. Ein Tritt trifft mich im Rücken. Ich zucke zusammen, winde mich, was die beiden, die mich festhalten, gleich zum Anlass nehmen, noch ein paarmal nachzutreten, diesmal ins Gesicht. Ich versuche, meinen Kopf wegzudrehen, aber ihre lehmverschmierten Schuhe sind überall. Als mein Rucksack leer ist, kommen die anderen Jungen dazu, und sie singen und singen. Ich schmecke Metall in meinem Mund, Blut. Ich spucke. Huste. Diesmal machen sie Ernst. Diesmal bringen sie mich um, ich weiß es.

Einer von ihnen tritt mir auf den Kopf. Er tritt so, wie wir hier Maulwurfshügel eintreten. Hart. Entschieden. Mein Kopf ist ein Hügel Schmutz, der unter seinem Schuh in sich zusammenfällt.

Verbrechersohn ist das Letzte, was ich höre. Und das Letzte, an das ich denken kann, ist das geronnene Rinnsal Blut, das am Ohr meiner Mutter geklebt hat, als Vater sie nach Hause gebracht hat. Sie haben meiner Mutter das Hirn weich geprügelt. Und jetzt haben sie mir das Hirn weich geprügelt.

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